Grusswort von Frau Regierungspräsidentin Barbara Schneider, Basel,
zur Eröffnung der Rauminstallationen am 23.Juni 2001

Vor 1000 Jahren hat Kaiser Heinrich das Basler Marienmünster reich beschenkt. So reich, dass der weltliche Herr schon bald zum Heiligen avancierte, ja sogar neben der heiligen Jungfrau zum zweiten Patron von Stadt und Münster. 500 Jahre später, am Heinrichstag, sollte Basel, was wir in drei Wochen hier im Münster feiern werden, dem losen Bund der Eidgenossenschaft beitreten. Und wenig später nur stürzte der Sturmwind der Reformation die Heiligenbilder vom Sockel und den regierenden Fürstbischof vom Stuhl.

Heute, zu Beginn des dritten Jahrtausends nach Christi Geburt, finden wir uns wieder hier im Münster, um mit der Rauminstallation "Von Liebe wegen" einem Heiligen und seinen Schenkungen zu begegnen. Nicht den mächtigen Realpolitiker Kaiser Heinrich II wollen wir hier suchen, der schon 122 Jahre nach seinem Tod durch einen schwachen Papst zum starken Reichsheiligen erhoben wurde. Nein, die Ausstellung im sakralen Raum konfrontiert uns mit der aussergewöhnlichen Persönlichkeit des Einsiedlers Niklaus von Flüe, einem zu freiwilliger Armut Berufenen, einem knorrigen Charismatiker und visionären Friedensstifter, der fast 500 Jahre darauf warten musste, vom Vatikan kanonisiert zu werden. Und dennoch war der einstige Gutsbesitzer, Ratsherr, Richter und Rottenführer als Bruder Klaus schon zu Lebzeiten längst zum volkstümlichen Wundertäter aufgestiegen, um von dort zur katholischen Tellenfigur, zum Schutzpatron der Neutralität, ja zum Schweizer Nationalheiligen vereinnahmt zu werden. Reformatoren wie Luther und konservative Päpste beriefen sich auf Niklaus von Flüe, und wenn - wie auch im jüngsten Abstimmungskampf um die Militärvorlagen - beide Lager den Heiligen vor ihren Karren spannten, was ist da geschehen? Von wegen Liebe! Ist ausgerechnet der prinzipienstarke Eremit zur beliebigen Scheinautorität verkommen? War seine Botschaft zu vage? Ist sie es erst durch die zeitliche Distanz geworden? Oder ist der modernen Welt das Heilige grundsätzlich abhanden gekommen?

Wenn wir uns in die Zeit des heiligen Niklaus "zurückbeamen" könnten, so wären wir zunächst durch Härte und Fremdheit der damaligen Lebensumstände erschüttert. Und wir wären befremdet durch die Allgegenwart des Heiligen und angeblich Heiligen, mit dem sich die Menschen in ihrem von Rechtsunsicherheit, Krankheit, Mangel und schnellem Tod geprägten Dasein zu trösten versuchten. Heilige waren Lichtgestalten für Hoffnung und Lebensmut, Vor-Bilder zur Nach-Ahmung exemplarischer Lebensmodelle zwischen Wirklichkeit und Legende. Wo es keinen Sozialstaat mit seinen vielen Anlaufstellen gab, mussten Heilige als persönliche Nothelfer und Fürbittende die Lücken füllen. Zu Niklaus' Zeiten gab es denn auch eine wundersame, ja inflationäre Vermehrung der Heiligen:

Es gab aktive und passive Heilige, angepasste und rebellische Heilige, helfende, überwachende und strafende Heilige, adelige, bürgerliche und proletarische Heilige, bettelnde und spendable Heilige, Eroberungs- und Rückzugsheilige, Helden-, Täter- und Opferheilige. Es gab Sockel-, Türsteher- und Säulenheilige, und es gab echte wie falsche, gewöhnliche wie sonderbare Heilige.

Zu weitaus grössten Teilen ist dieses Heer von Heiligen heute ins Spurenhafte abgesunken: Noch immer trägt die Mehrheit der Schweizer einen Heiligennamen - und die Mehrheit der Basler wohnen in Stadtteilen, deren Name trotz populärer Verstümmelung zu Dalbe, Bläsi oder Santihans an die einstigen Patrone Alban, Paulus oder Johannes erinnern. Andere Heilige, wie meine Namenspatronin Barbara, strich der Vatikan jüngst aus dem Kanon, weil sie bloss in der Legende existierten. Dafür umso lebhafter im Volksglauben: So bin ich bei meinen berufsbedingt häufigen Baustellenbesuchen immer wieder überrascht, wie lebendig die Patronin der Bauleute und Tunnelbauer dennoch geblieben ist. Nur deshalb war ich auch wenig überrascht, mir bei der letzten Fasnacht als Schein-Heilige Barbara zu begegnen - in Gestalt einer Cliquen-Tambourmajorin...

Im Unterschied zum Mittelalter von Kaiser Heinrich bis Niklaus von Flüe braucht sich heute die Politik glücklicherweise kaum mehr um den Geruch der Heiligkeit zu kümmern. Unser Problem liegt viel eher bei den Nuancen zwischen populär und populistisch - und der so schwierigen Vereinbarkeit von Vision und Realpolitik in einer Welt und einem Land, wo äussere Grenzen schneller am Verschwinden sind als die Schranken in unseren Köpfen. Selbst ein populärer Asket, der sich seine moralische Messlatte so heiligenmässig hoch legte wie Niklaus, käme heute nicht umhin, dessen einfaches "Stecket den zûn nicht zu wît" entsprechend zu hinterfragen.

Was würde Bruder Klaus, wenn er uns hier leibhaftig gegenübertreten würde, vorfinden? Eine Gesellschaft, deren Philosophen angesichts der gewaltigen Veränderungskräfte der Gen- wie Kommunikationstechnologie zwar lautstark die Wiederherstellung des Heiligen fordern, eine Gesellschaft aber, die damit grösste Mühe bekundet, im Umgang mit ihrem Reichtum, ihren begrenzten Ressourcen und nur schon ihrem Abfall ein Minimum an Verantwortung, Gemeinsinn und Sorgfalt aufzubringen - von Toleranz, mitweltlichem Respekt oder gar Nächstenliebe ganz zu schweigen.

Damals waren Heilige dafür da, Fragen zu beantworten. Heute würde Bruder Klaus, wenn er uns entgegenkäme, neue Fragen aufwerfen, etwa Fragen zu unzeitgemässen Tugenden wie Einkehr, Echtheit oder Demut. Gewiss hätte er auch ganz praktische Fragen gestellt. Etwa wo er im zersiedelten Agglo-Land von heute überhaupt noch seine stille, wilde Klause finden könne.

Und was würde Niklaus, der freiwillige Ranft-Ständige, der seine Einsiedelei nur zum Friedensstiften verliess, zu unserem Mobilitätswahn sagen? Und was der Seher, der schon im Mutterleib Visionen hatte, zum heutigen Kult des Audiovisuellen?

Wir sind es gewohnt, uns von Künstlern, Beratern und Kabarettisten ein bisschen provozieren zu lassen, des Nachdenkens und der Unterhaltung wegen. Umso tiefer provoziert uns der heilige Niklaus von Flüe mit seinem hartnäckigen Auftrag "Von Liebe wegen". Es ist dies die Radikalität seines Lebensentwurfs, die uns herausfordert. Die störrische Menschenliebe des Eremiten, der seine Grossfamilie zurückliess, der einen Stein zum Kissen wählte, der Anteil nahm, indem er jeglicher Teilnahme entsagte. Er provoziert Fragen, deren Beantwortung vielleicht beim Besuch der Ausstellung aufscheinen mag, einer Aktion, für die ich allen Beteiligten herzlich danken möchte.